Die geografische Lage der Insel Mallorca ist auch der Schlüssel zu ihrer Geschichte. Wenn man eine Landkarte des Mittelmeergebietes betrachtet, sieht man eines auf den ersten Blick: Die Urmallorquiner müssen Seefahrer gewesen sein. Als sie vor rund 6000 Jahren dieses Eiland erstmals betraten, war ihr Schiff weder vom europäischen noch vom afrikanischen Festland hierhergekommen. Denn die Völker, die den Rand des Mittelmeeres bewohnten, waren Küstenfischer mit dem Bewusstsein von Landratten, die einen Heidenrespekt vor der Gewalt des Wassers hatten.
Die Entdecker Mallorcas müssen aber erfahrene Seeleute gewesen sein. Vieles spricht dafür, dass Sarden, Sizilianer oder Malteser die Urahnen der Mallorquiner sind. Als Insulaner hatten sie ihre Nautischen Kenntnisse so weit verbessert, dass sie unter Ausnutzung eines kräftigen Ostwindes weiter nach Westen vorstoßen und eines Tages am Strand von Es Trenc oder an der Playa von Portocristo an Land gehen konnten – purer Zufall, Wagemut oder Forscherdrang?
Das geschah in grauer Vorzeit, doch die genauen Einzelheiten sind heute nicht mehr auszumachen. Dies änderte sich mit der Erfindung der Schrift und dem Aufkommen der Geschichtsschreibung. So erfahren wir aus Athen und Rom, dass die Steinzeit-Mallorquiner begabte Baumeister und wegen der geschickten Handhabung ihrer Steinschleuder gefürchtet waren. Wir erhalten Kunde von den Karthagern, die 600 Jahre vor Chr. aus dem Gebiet des heutigen Tunesien auf die Insel kamen, und von den Römern, die im Jahre 123 vor unserer Zeitrechnung vom spanischen Festland herübergesegelt kamen. Letztere blieben 588 Jahre und wurden schließlich von den ostgermanischen Vandalen vertrieben. Von Spätantiken Chronisten wissen wir weiterhin, dass die oströmischen Byzantiner 534 wiederum diese Blondschöpfe von den mallorquinischen Stränden jagten und dass die Insel im Jahre 903 von neuem einen ethnischen Impuls erhielt: Die Araber aus dem Emirat Córdoba brachten neues Leben, Fortschritt und eine herrliche Kultur nach Mallorca.
Später notierten lateinische und katalanische Quellen Ankunft der Festlandspanier am 29. September 1229. Seitdem ist die mallorquinische Geschichte in die europäische eingebettet, und schon 1550 beschreibt der Deutsche Sebastian Münster in seiner „Cosmographia universa“ die Insel in feinen Einzelheiten. Ab 1874 verfasst der österreichische Erzherzog Ludwig Salvator sieben Bände über Mallorca. Danach beginnt die Gegenwart: Urlauber und Ausländer, die hier immer leben, bestimmen die Geschichte mit.
Steinzeitmenschen und Karthager, Römer und Germanen, Araber und Spanier – sie alle haben so in den vergangenen 6000 Jahren Spuren hinterlassen: in der Mentalität, in der Sprache, in der Haar-, Augen- und Hautfarbe, in Musik und Dichtung, in Landwirtschaft und Baukunst und schließlich im Geschäftssinn und in der Urbanisierungswut der Spekulanten.
Der Mittelmeerraum, der als Wiege der abendländischen Kultur gilt, verleiht auch Mallorca seine geschichtliche Bedeutung.
I. Die Geschichte Mallorcas
von Beginn bis zur Antike
Vorgeschichtliche Zeit
Wie ein paradiesischer Dschungel voller Obst-, Laub- und Nadelbäume, üppiger Sträucher, diftender Blumen und hoher Gräser erhob sich die Insel Mallorca aus dem türkisblauen Mittelmeer, als sie um 4000 vor Chr. Erstmals von Menschen gesichtet wurde. Dass Mallorca einmal ein großer Garten Eden gewesen sein muss, haben geologische Funde ergeben.
Gemessen an der Erdgeschichte, ist Mallorca eine junge Insel, die vor ungefähr 120 000 Jahren bei einem Erdbeben geboren wurde. Die Inselgruppe der Balearen, der Mallorca angehört, bildet die Spitze eines abgesackten Gebirges, das früher mit der Sierra Nevada auf dem spanischen Festland verbunden war. Nimmt man eine Landkarte und zieht eine gerade Linie von Andratx bis nach Almería im Südwesten Spanien, dann zeigt diese den ungefähren Verlauf des urzeitlichen Gebirgszuges.
Bis Menschenaugen dieses traumhafte Eiland zum ersten Mal sahen, mussten biblische Zeiten vergehen. Die ersten Siedler waren wahrscheinlich Seeleute, die bei einem Unwetter mit ihren kleinen Schiffen von der üblichen Route abkamen und ins offene Meer verschlagen wurden. Nach ihrer glücklichen Rettung auf die bis dahin unbekannte Insel holten sie Frauen, Kinder, Hab und Gut nach, um das neu entdeckte verheißungsvolle und fruchtbare Land zu besiedeln. Sie rodeten Wald, bauten Hütten aus Baumstämmen und Ästen und ernährten sich von Fischen und Meerestieren, die es im Überfluss gab. Dafür mangelte es an jagdbaren Tieren. Nur ein paar Vogelarten und eine kleinwüchsige Ziegenart, die längst ausgestorben ist, lebten hier. Doch es ist immer noch umstritten, ob die Insel tatsächlich schon seit 6000 Jahren von Menschen bewohnt wird. Neuere Funde von Menschen- und Ziegenknochen in Höhlen bei Valldemossa und Sóller sollen jedoch laut Laboruntersuchungen aus der Steinzeit stammen.
Die Höhlenkultur (2200–1400 vor Chr.)
Von nun an fehlt es allerdings nicht mehr an überzeugenden Beweisen für die Existenz von Ureinwohnern auf der Insel. Es wurden Keramikgegenstände, einfache Haushaltsgeräte und Grabstätten in natürlichen und künstlichen Höhlen gefunden. Die größte bisher entdeckte natürliche Höhle ist 60 m lang und liegt unterhalb der Burg Santueri bei Felanitx. Künstliche, in den Sandstein gegrabene Höhlen dienten meist als Grabstätten. Die beeindruckendsten bronzezeitlichen Bauwerke auf der Insel sind die Navetas, bis zu 15 m lange schiffförmige Steinbauten, in denen einst die Menschen wohnten oder ihre Toten bestatteten. Die historisch bedeutsamste Ausgrabung dieser Art liegt bei Calvià.
Zur Zeit der europäischen Höhlenkulturen gelangen dem Menschen zahlreiche bedeutsame Erfindungen. Werkzeuge und Waffen wurden nicht mehr aus Stein gefertigt, sondern aus Metall – zunächst aus Kupfer, später aus Bronze – geschmiedet. Die Jäger- und Sammlervölker wurden sesshaft und gingen zum Ackerbau über, stellten Keramikgefäße her und erfanden das Rad. Auf dem Mittelmeer entwickelte sich eine rege Seefahrt. Sie diente dem Handel mit Metallen, deren Lagerstätten sich hauptsächlich in Italien (Elba, Etrurien), auf der Iberischen Halbinsel (Tartessos) und in Südengland (Zinninseln) befanden. Trotz großer Gefahren überquerten schließlich mutige und erfahrene Handelsleute das offene Meer, um die Reise abzukürzen, während man zuvor nur an den Küsten entlanggesegelt war. Dabei mögen einige dieser Abenteurer die Insel mallorca als Zwischen- und Handelsstation oder auch als neue Heimat auserkoren haben.
Diese frühen Einwanderer waren gleichermaßen Fischer, Händler, Bauern und Handwerker. Auf Mallorca ließen sich Sippen nieder, die aus dem östlichen Mittelmeergebiet, und zwar aus Malta, Sardinien und Sizilien, kamen. Es waren friedliche Menschen, die weder Waffen noch befestigte Dörfer kannten.
Die talayotische Zeit (1400-200 vor Chr.)
War das Leben der Insulaner bisher friedlich verlaufen, so änderte sich das in den folgenden Jahrhunderten radikal: Die Siedlungen wurden mit unüberwindbaren Steinmauern und den für Mallorca charakteristischen megalithischen Türmen, den Talayots, befestigt. Die zahlreichen Waffenfunde bestätigen außerdem, dass sich die Bewohner dieser Dörfer ständig vor Überfällen schützen mussten, entweder weil sie vom Meer her angegriffen wurden oder weil die Stämme auf der Insel unter sich verfeindet waren.
Die beeindruckende Talayot-Kultur ist vermutlich nicht von den Nachfahren der oben beschriebenen Höhlen-und Navetas-Bewohner geschaffen worden, sondern sie gelangte mit einer späteren Welle von Einwanderern auf die Insel, die vermutlich wiederum aus Malta und Sardinien, vielleicht aber aus Korsika oder dem Südosten der Iberischen Halbinsel einfielen.
Talayots – abgeleitet von dem arabischen Wort atalaji, Wache – sind zu Hunderten auf Mallorca und auf Menorca gefunden worden. Es sind runde oder – seltener – viereckige Anlagen von 10-12 m Durchmesser und 6-8 m Höhe. Sie dienten nicht nur der Verteidigung, sondern auch als Wohn- und Begräbnisstätten. Diese imposanten Türme standen und stehen selten einzeln im Gelände, meist sind sie Teil des Mauerrings eines befestigten Dorfes. Um diese Kolossalen Bauwerke zu errichten, müssen erfahrene Baumeister und viele Helfer am Werk gewesen sein. Kultische Riten und ein geradezu fanatischer Wille mögen den nötigen Ansporn zum Aufeinandertürmen der bis zu 4 m langen, tonnenschweren Felsblöcke gegeben haben.
Gut erhaltene und sehenswerte Talayots sind „Capocorp Vell“ bei Llucmajor und „Ses Païsses“ bei Artà sowie „Els Antigors“ bei Ses Salines und „Sa Gruta“ bei Manacor. Zur Zeit der Errichtung dieser Wehranlagen sollen etwa 10000 Menschen auf der Insel gelebt haben. Bisher ist keine dieser jahrtausendealten Siedlungen vollständig ausgegraben worden, sodass eine abschließende Bewertung dieser Kultur noch aussteht. Aufgrund von Funden, wie Ziergegenstände aus Bronze, Knochen und Glas, die nicht auf der Insel hergestellt sein können, weiß man, dass die Insulaner regen Kontakt mit der Außenwelt pflegten. Mallorca war Anlegestelle für Schiffe, die mit Waren aus italischen und iberischen Häfen hierherkamen.
Am Ende der Talayot-Zeit verließen viele Männer die Insel, um sich als Söldner zu verdingen. Diese im ganzen Mittelmeerraum begehrten Krieger gingen als die berühmten balearischen Steinschleuderer (auf spanisch honderos) in die Geschichte ein.
Nuredduna
Nacherzählung einer mallorquinischen Sage
Ein griechischer Segler durchkreuzt die Gewässer von Mallorca. Neun Männer aus Hellas sind auf Abenteuerfahrt. Melesigeni ist ihr Anführer. An einem Küstenstreifen von Artà gehen sie an Land. Bei ihren Streifzügen gelangen sie zu einem talayotischen Dorf, in dem der letzte Stamm der Steinschleuderer wohnt. Die Griechen werden gefangengenommen. Ihr Schicksal ist damit besiegelt. Denn der Stamm beschließt, sie seinen heidnischen Göttern zu opfern, um diese von ihrem Plan abzubringen, das Talayot-Volk auszulöschen. Alle versammeln sich unter dem Blätterdach einer gigantischen Eiche, des Wahrzeichens des Dorfes. Mit Fellen bekleidete Krieger tanzen im Widerschein eines wild lodernden Scheiterhaufens. Ihr monotoner Gesang versetzt sie in Trance.
Plötzlich verstummen die Krieger, denn eine fremdartige Stimme erhebt sich, und ein trauriges Lied, von den sanften Klängen einer Lyra begleitet, zieht alle in ihren Bann. Es ist Melesigeni, der seinen Gefährten im Angesicht des Todes einen letzten Trost spenden will.
Nuredduna, eine Priesterin, die das Ritual leitet, löst sich aus ihrer Erstarrung und klettert schnell auf den höchsten Stein eines gewaltigen Talayots und ruft hinunter: „Hört mich an, Krieger! Das Blut dieses jungen Fremden darf nicht vergossen und sein Körper nicht verbrannt werden. Die Götter wollen ihn als ausgewähltes Opfer für sich haben und befehlen, ihn lebend zum großen Altar in der Grotte zu bringen.“
Und so geschieht es. Während die übrigen Gefangenen nacheinander getötet und in die Flammen geworfen werden, beginnt man den entsetzten Melesigeni mit Rosmaringirlanden zu schmücken, um ihn anschließend zur heiligen Höhle zu führen. Im Inneren des feucht- und blauschimmernden Raumes wartet Nuredduna neben dem großen Steinaltar. Sie schaut unbeweglich zu, wie der Grieche mit der Lyra über der Brust gefesselt wird und die Besinnung verliert. Das Volk und die Krieger ziehen sich auf einen Wink der Priesterin hin zurück.
Als Melesigeni zu sich kommt, sieht er das Gesicht Nureddunas über sich. Er begreift nichts. Sie lächelt und nickt bedeutungsvoll mit dem Kopf. Dann löst sie ihm die Fesseln und führt ihn nach draußen. Im klaren Licht der Morgensonne versteht er plötzlich, dass er frei ist. Unten am Strand wartet ein Boot auf ihn, das ihn zu seinem Segler zurückbringt. Auf die Knie sinkend, küsst der Sänger die Hände der Priesterin, steigt hinab und rudert in die Freiheit.
Der Tag vergeht. Hoch oben auf dem Felsen steht immer noch Nuredduna. Sie schaut in die Richtung, in die Melesigeni verschwunden ist. Da erhebt sich aus den nahen Büschen ein ohrenbetäubendes Geschrei. Das Volk hat ihren Betrug gemerkt und ist zurückgekommen. Ein Steinregen prasselt auf die Priesterin nieder. Mitten auf die Stirn getroffen, sinkt sie blutend zu Boden. Aber es gelingt ihr mit letzter Kraft, in der nahen Grotte Schutz zu suchen. Hier stirbt sie.
Kurze Zeit darauf landet ein feindliches Heer und bricht in das Gebiet des Stammes an der Rieseneiche ein. Gegen die überlegenen Eisenwaffen helfen weder Steinschleuder noch Bronzeschwert. Der Stamm wird besiegt. Der Dorfälteste ist mit den Frauen und Kindern in die Höhle geflüchtet. Dort brennt vor dem Altar ein riesiges Feuer. Während draußen die letzten Krieger sterben, werfen sich die Überlebenden verzweifelt in die Flammen. Bevor der Anführer ihnen folgt und sich der Fluch der Götter erfüllt, hat er seine letzte Vision: Er sieht Nuredduna herrlich und kalt, wie aus Marmor gemeißelt, hoch oben auf dem Altarstein sitzen. Aus einer klaffenden Wunde auf der Stirn rinnt Blut, das die Saiten einer Lyra, die sie in den Armen hält, rot färbt.
Der Scheiterhaufen brennt, bis die letzten Reste dieses unvorstellbaren Opfers zu Asche geworden sind. Noch heute scheinen die geschwärzten Wände der beeindruckenden Höhle von Artà Zeugnis von dem Untergang des letzten Talayot-Stammes abzulegen.
Mallorcas berühmter Poet Miquel Costa i Llobera (1845-1922) hat diese Sage in dem Gedicht: “Das Vermächtnis des griechischen Genies“ umgewandelt. Für Costa war Melesigeni kein Geringerer als der geniale Homer, der, wie Herodot berichtet, auf seinen Seereisen auf der Suche nach einer Göttin und Wahrsagerin namens Nuredduna auch an Spaniens Küsten kam.
Die balearischen Steinschleuderer
Die Geschicklichkeit und der Mut der balearischen Steinschleuderer, einer gefürchteten „Waffengattung“ des Altertums, sind von Dichtern der Antike besungen worden. Ihr Ruhm lebt bis heute in Anekdoten fort. So wird erzählt, dass die Mütter selbst ihre Söhne von frühester Kindheit an für den Kampf trainierten: sie mussten ihr Brot mit der Schleuder aus den Ästen eines Baumes herunterschießen.
Balearische Steinschleuderer dienten seit dem 5. Jahrhundert vor Chr. in Söldnerheeren. Römische Geschichtsschreiber erwähnen sie erstmals im Jahre 480 vor Chr., als sie auf Seiten Karthagos um die Stadt Himera auf Sizilien kämpften und maßgeblich zum karthagischen Sieg über Theron beitrugen. Damals stritten die Griechen und die Phönizier, die in Karthago, in der Nähe des heutigen Tunis, eine Handelskolonie gegründet hatten, um die Vorherrschaft im Mittelmeer.
Die Karthager, die bereits 654 vor Chr. das kaum besiedelte Ibiza zu ihrer Kolonie gemacht hatten, haben nie über Mallorca geherrscht. Sie hatten jedoch jahrhundertelang Handelsstützpunkte auf den nahen Nachbarinseln. So soll auf der kleinen Insel Conejera, nördlich von Cabrera, der geniale karthagische Feldherr Hannibal geboren worden sein. Unter der Führung dieses berühmten Strategen kämpften balearische Söldner im Zweiten Punischen Krieg (218-201 vor Chr.) gegen römische Heere um die Vorherrschaft im westlichen Mittelmeer. Später halfen sie Julius Caesar, Gallien zu erobern.
Warum mallorquinische Steinschleuderer sich als Söldner verdingten, ist nie vollständig geklärt worden. Wahrscheinlich ist jedoch, dass sie deswegen in die Heere fremder Völker eintraten, weil sich die Lebensbedingungen auf ihrer Insel mit dem Niedergang der Talayot-Kultur um 400 vor Chr. verschlechterten. Mallorca verlor sein Monopol als Handelsplatz; denn die besser gebauten Schiffe der Griechen und Phönizier transportierten die Metalle direkt von Spanien in den Orient. Zwischenstation machten sie jetzt in ihren eigenen nordafrikanischen und unteritalischen Kolonien und nicht mehr auf Mallorca. Dadurch begann die Inselbevölkerung zu verarmen. Manche Mallorquiner versuchten als Piraten ihr Glück, andere traten eben als Söldner in fremde Heere ein.
Die Ausrüstung der balearischen Steinschleuderer bestand aus drei verschiedenen großen Schleudern für kurze, mittlere und weite Entfernungen. Sie wurden im Allgemeinen aus Bast, Pferdehaar, Sehnen und Leder hergestellt. Als Wurfgeschoss dienten mehr oder weniger runde Steine mit einem Durchmesser von etwa 4-6 cm, die auch auf dem Schlachtfeld wieder aufgelesen wurden. Die wohltrainierten Männer sollen bis zu einem Pfund schwere Steine geschleudert haben, was bei der ihnen nachgesagten Treffsicherheit vermutlich auch den tapfersten Feind in die Flucht geschlagen hat.
Und so wurde es gemacht: Die an zwei Riemen gehaltene Schleuder wurde über dem Kopf dreimal im Kreis herumgewirbelt und dann der darin liegende Stein mit der aus der raschen Bewegung gesammelten Kraft in die gewünschte Richtung geworfen, wobei ein Riemen losgelassen werden musste.
In den Schlachten bildeten die nur mit einem Ziegenfell bekleideten, barfüßigen Honderos die Vorhut. Sie begrüßten die Feinde mit einem Steinhagel und zogen sich dann vorübergehend hinter die Infanterie zurück. Anschließend mischten sie sich unter die Kämpfenden.
Welchen Nachhall die Steinschleuderer im Bewusstsein der Mallorquiner haben, zeigt die Tatsache, dass noch Anfang dieses Jahrhunderts ein solches Schauspiel als Wettkampf aufgeführt wurde. In vielen Orten der Insel sind diesen kampfesfreudigen Männern Denkmäler gesetzt worden.
Weder die Phönizier noch ihre Enkel, die Karthager, noch die Griechen haben Mallorca je beherrscht, aber sie haben durch ihren Handel mit den Inselbewohnern dort kulturelle Spuren hinterlassen. Gewisse Bräuche und Kultobjekte mögen die Steinschleuderer auch von ihren Kriegsabenteuern heimgebracht haben. Ein Beispiel dafür ist Mars Balearicus. Kleine Bronzestatuen dieses Kriegsgottes mit Helm, Schwert und Wurfspeer, wurden auf Mallorca bei verschiedenen Ausgrabungen gefunden. Dieser kleine Schutz- und Kriegsgott griechisch-römischen Ursprungs wurde auch von den balearischen Kriegern verehrt. Marsstatuetten genossen jahrhundertelang als Kultobjekte Verehrung wie auch die in einem Heiligtum in Costitx im Zentrum der Insel ausgegrabenen, gut erhaltenen Stierköpfe aus Bronze, die männliche Gottheiten darstellen und Verwandtschaft mit Funden der minoischen Kultur auf Kreta zeigen.
Herkules und das Trojanische Pferd
an Mallorcas Stränden
Wer kennt nicht die Sage von Herkules und den Säulen, die er an der Straße von Gibraltar errichtet haben soll. Aber wer weiß, dass dieser Sohn des Zeus Mallorca liebte?
Auf dem Weg von Athen nach Gibraltar, wo er an den riesigen Grenzpfählen arbeitete, kam er häufig an Mallorca vorbei, wie der römische Geschichtsschreiber Titus Livius uns berichtet. Ihm gefielen die schöne Insel und ihre vom Steinschleudern gestählten Bewohner. Nur das grobe, ungeschlachte Verhalten, das sie an den Tag legten, bereitete ihm Sorgen. Darum hat er seinen Begleiter Baleo beauftragt, den Mallorquinern Sitten und Manieren beizubringen.
Ob Baleo erfolgreich war, wissen wir nicht. Es ist aber wahr, dass die Hellenen die Balearen in ihr Herz schlossen und nach Trojas Untergang (ca. 1200 vor Chr.) viele Fahrten nach Mallorca unternommen haben. Einen Beweis liefert uns Juan Bautista Ensenyat y Pujol, Priester und Presbyter der Gemeinde S’Arracó, in seinen Aufzeichnungen aus dem Jahre 1919. Hier beschreibt er Funde, die zu Beginn dieses Jahrhunderts im Port d’Andratx gemacht wurden. An zwei jahrtausendealten Bleiankern entdeckte man Verzierungen, die ein Tier darstellen: Ein Pferd! Das Pferd von Troja?
Scharfschützen – auf spanisch honderos
Wenn man in Palma vom Paseo Maritimo den Paseo del Borne hinaufschlendert, trifft man unterwegs auf einen Hondero. Auf der rechten Straßenseite steht er, in Bronze gegossen, vor dem Almudaina-Palast, mitten in einer kleinen Parkanlage. Schlank und edel wächst er aus einem Steinsockel heraus. Konzentriert blickt er in die Richtung des gerade fortgeschleuderten Steines. Den rechten Arm hoch erhoben, verharrt er im Augenblick des Abwurfes, in der herunterhängenden linken Hand ein weiteres ovales steinernes Geschoss haltend.
So griechisch-römisch hat er in Wirklichkeit wohl nicht ausgesehen, als sich vor etwa 2500 Jahren sein Ruf, der beste Steinschütze des Mittelmeerraumes zu sein, bis nach Athen, Karthago und Rom verbreitete. Wir müssen uns ihn eher klein und untersetzt vorstellen. Gehen wir von der Physiognomie des mediterranen Urmenschen aus, eine iberisch-libysche Mischung, so hatte er kastanienbraune Haare, die zottelig um einen Dickschädel wehten. Aus einem sonnenverbrannten Gesicht schauten hungrig und gefährlich dunkle Augen. Seine Arme waren mit gewaltigen Muskeln bepackt, die sich im Rollen und Stemmen der riesigen Talayot-Steine herausgebildet hatten. Seine Füße waren breit und kräftig von der stetigen Nahrungssuche und Schwerarbeit, und wenn Ziegenfelle knapp waren, lief er einfach splitternackt herum.
Von diesen Scharfschützen und ihrer großen Zeit sind nur noch Steine übriggeblieben: ziemlich gewichtige, die wir heute noch in den Talayots, ihren Burgen, Heim- und Kultstätten bewundern können, und kleinere runde Steine, die wir ab und zu am Wegrand liegen sehen. Das war ihre Munition! Nehmen Sie einmal einen solchen Halbpfünder in die Hand. Das waren die schweren Kaliber der Honderos, die manche Eroberungsabsicht zunichte gemacht haben.
Römische Herrschaft (123 vor Chr.-465 nach Chr.)
Die Karthager büßten ihre Vorherrschaft im westlichen Mittelmeerraum nach der Niederlage im Zweiten Punischen Krieg ein, im Verlauf dessen die Römer die Oberhand gewannen. Sie eroberten die Iberische Halbinsel und fast alle Gebiete der Mittelmeer-Anrainer.
Mallorquinische Freibeuter behinderten den römischen Handel und enterten Schiffe, auf denen wichtige römische Delegationen reisten. Das nahm Rom zum Anlass, Mallorca zu erobern. Die Mallorquiner machten es den Eindringlingen nicht leicht, auf ihrer Insel zu landen. Die Steinschleuderer empfingen die feindlichen Schiffe mit einem Steinhagel und konnten sie auch mehrmals in die Flucht schlagen. Schließlich bedeckten die römischen Angreifer ihre Schiffe mit zeltförmig aufgespannten Fellen und Netzen, sodass Besatzungen und Schiffe geschützt waren. Mittels dieser List eroberten sie die Insel. Dies geschah im Jahre 123 vor Chr. unter dem römischen General Quintus Caecilius Metellus, der vom römischen Senat als Anerkennung für diesen Sieg den Beinamen „Balearicus“ erhielt. Zu diesem Zeitpunkt war der römische Staat noch eine Republik. Rund 100 Jahre später, als Augustus römischer Kaiser geworden war, bildeten die Einheimischen mit den 3000 von Metellus auf Mallorca angesiedelten Römern bereits eine Gemeinschaft.
Unter römischer Herrschaft wurden Pollentia (Pollença), Palmaria Palmensis (Palma), Sinium (vermutlich Sineu) und Cunium (nahe Manacor) gegründet. Boccoros (bei Port de Pollença) war schon vor der Eroberung entstanden. Pollentia das nahe beim heutigen Alcúdia lag, war größer und wichtiger als Palma, was auch sein Name unterstreicht, der so viel wie „die Mächtige“ bedeutet. Ruinen des römischen Theaters, Gebäude und Funde wie Steintafeln, Statuen und Münzen können in verschiedenen Museen auf Mallorca besichtigt werden. Das römische Palma soll dort gestanden haben, wo der heutige alte Stadtkern ist. Der Name Palmaria Palmensis bedeutet „Siegespalme“, was sich auf den Sieg der römischen Eroberer bezieht.
Obwohl Rom die Gesetze, Bräuche und Religion der eroberten Völker respektierte, wurden die lateinische Sprache und die römische Kultur allmählich von den Einheimischen übernommen. Zuvor hatten diese eine Mischung aus Griechisch und iberischer Mundart gesprochen. Diese Sprache hat keine literarischen Zeugnisse hervorgebracht.
Von nun an verloren die befestigten Dörfer mit den charakteristischen Talayots ihre Bedeutung. Die Insulaner lebten mit den angesiedelten Römern in Frieden. In den neugegründeten Orten entfaltete sich ein städtisches Leben nach römischem Vorbild, das die Sozialstruktur der Insel erheblich veränderte. Es bildeten sich eine Oberschicht aus den alten angesehenen Familien der Insel und eine Mittelschicht aus wohlsituierten Einheimischen und Römern, die mit Handel ihr Geld verdienten. Zur untersten Klasse gehörten die Sklaven – ehemalige Kriegsgefangene und Geiseln.
Die nun wachsenden Städte wie Pollentia und Palma wurden nach römischem Muster gebaut. Es entstanden rechteckige Häuser mit einem Hof in der Mitte, geschmückt mit Marmor, Stuck und Mosaiken, ausgestattet mit Bädern, Wasser- und Abwasserleitungen. Es fehlten weder regelrechte Einkaufsstraßen noch das Forum, eine öffentliche Platzanlage, umrahmt von schönen Gebäuden und Götterstatuen sowie Denkmälern von Herrschern und Feldherren. Der Almudaina-Palast in Palma steht auf römischen Grundmauern.
Wie in allen wichtigen Städten des Römischen Reiches veranstaltete man auch in Pollentia zu festlichen Anlässen Spiele, Wettkämpfe und Aufführungen in einem Freilufttheater, dessen Überreste heute noch zu besichtigen sind. In dieser friedlichen Epoche unter römischer Herrschaft erblühten Landwirtschaft, Handel und Handwerk. Einträgliche und bevorzugte Handelsgüter waren damals Weizen, Wein und Olivenöl. Plinius der Ältere schrieb vor 2000 Jahren: „Es gibt zwei Säfte, die dem menschlichen Körper angenehm sind: innerlich der Wein und äußerlich das Öl, und beide erhält man von Bäumen.“
Im Jahre 400 nach Chr. schließlich war die Insel vollständig romanisiert. Sie trug als römische Provinz den Namen „Balearica“, wobei diese Bezeichnung schon seit 700 vor Chr. belegt ist. Ihr sprachlicher Ursprung ist jedoch bis heute umstritten. Einige Forscher leiten das Wort Balearen von der westsemitischen Gottheit Baal her; andere bringen es mit dem griechischen Verb ballein, werfen, in Verbindung und beziehen es auf die Steinschleuderer. Der Name „Mallorca“ selbst geht eindeutig auf die Römer zurück. Sie nannten die größte Insel der Balearen „Insula Maior“, „die größere Insel“, oder „Maiorica“, woraus dann später Mallorca wurde.
Es wird vermutet, dass der Apostel Paulus um das Jahr 60 die Insel auf der Reise von Rom zum spanischen Festland besuchte. Für Schiffe aus Italien war Mallorca gewöhnlich Zwischenstation bei langen Fahrten durch das westliche Mittelmeer.
Schon im 2. Jahrhundert hatte sich das Christentum auf der Iberischen Halbinsel und auch auf Mallorca ausgebreitet. Die meisten der christlichen Zeugnisse, die am Ende des 4. Jahrhunderts auf der Iberischen Halbinsel und den Balearen gefunden wurden, stammen aus Mallorca. Die Basiliken „Sa Carrotja“ und „Son Peretó“ mit wertvollen Mosaiken in der Nähe von Manacor sind Zeugen des frühen Christentums.
Von Ölbäumen und Griechen
Mit oder ohne Stein, am liebsten gefüllt, haben wir die Ölbaumfrucht, die Olive, schon alle gekostet, erst recht ihren Extrakt, das Olivenöl. Wie oft schon hat sich unser bewundernder Blick in diese knorrigen, majestätischen, silbrig-grünen Urbäume versenkt, wie sie sich meist links-, ab und an auch rechtsherum in den Himmel schrauben.
Wie alt sind diese natürlichen Skulpturen, und wo kommen diese Prachtgewächse her, die die Salz-Luft und das Mittelmeerklima so lieben? Sie werden leicht drei-, vier-, fünf-, ja siebenhundert Jahre alt und erreichen sogar 1000 und manchmal auch 2000 Jahre, wenn sie am rechten Ort stehen. Denn einmal angepflanzt, leben sie immer weiter. Und vor 2500 Jahren könnten Griechen die Pflanzer der mallorquinischen Ölbäume gewesen sein, die hier regelmäßig anlegten, um sich mit Weizen und Kohle zu versorgen. In Artà standen möglicherweise die antiken Getreidespeicher, und in Andratx türmten sich die Kohlenhalden: denn Brot heißt auf Griechisch ártos, und Kohle ánthrax (Anthrazit).
Obwohl die Karthager um 500 vor Chr. den Ölbaum auf Mallorca eingeführt haben sollen, sind für uns eher die alten Griechen die Importeure gewesen. Sie waren eher gekommen und liefen die Insel häufiger an, und in Hellas waren die Ölbäume schon seit Urzeiten heimisch. So soll der Sage nach Herkules das erste Ölbäumchen von einer Reise zu den Hyperboräern nach Olympia gebracht haben. Homer schrieb 800 vor Chr. seine Odyssee im Schatten von Ölbäumen. Zweige des Olivenbaums schmückten die Sieger von Schlachten und Wettkämpfen. Aber sie waren auch Zeichen des Friedens. Die Taube, die nach der Sintflut zur Arche Noah zurückkehrte, trug einen Ölzweig im Schnabel als Hinweis darauf, dass ein Fleckchen trockene Erde aus den Wasserfluten ragte.
Das Öl der Olive galt als heilig. Medizinmänner schrieben ihm überirdische Kräfte zu. Natürlich handelte es sich dabei um das kaltgepresste, dickflüssige, grünliche Öl, das die Spanier „jungfräulich“ nennen, und nicht etwa um das gelbliche Produkt in Plastikflaschen aus unseren Supermärkten.
Übrigens: Die Mallorquiner stecken sich zur Osterzeit mancherorts Ölbaumzweige an die Fenster und Türen. Das soll zum Ausdruck bringen: hier wohnt ein frommer Mensch, dessen Haus gesegnet ist.
Quelle: MALLORCA Ein Streifzug durch die 6000jährige Geschichte der Mittelmeerinsel; Heide Wetzel-Zollmann, Wolfgang Wetzel